Der NSU beschaffte sich im Laufe seines Bestehens eine Vielzahl an Waffen. Beim Großteil der Waffen wurde die Herkunft bis heute nicht aufgeklärt. Eine Waffe hatte jedoch eine besondere Bedeutung im NSU-Komplex, da mit ihr alle bekannten rassistischen Morde des NSU begangen wurden: Die Česká 83. Bei der Analyse des Beschaffungswegs dieser Waffe zeigt sich die enge Verflechtung von Neonazi-Szene und organisierter Kriminalität in Jena gegen Ende der 1990er Jahre.
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Jena und der NSU-Komplex: Kontinuitäten und fehlende Konsequenzen
Am 4. November jährt sich die Selbstenttarnung des NSU zum 10. Mal. Im Jahr 2011 reagierte die Stadt auf das Auffliegen des von Jena ausgehenden Terrornetzwerks mit vorauseilender Schuldabwehr und der Sorge um den guten Ruf als liberales Wirtschaftswunder in Ostdeutschland. Als ob die Beschwörung des Mantras der “bunten und weltoffenen Stadt” die Schuld und die lokale Verantwortung aufwiegen könnten. Der gesellschaftliche Rassismus und die Fragen der Betroffenen sollten keine Rolle spielen. Seither ist bundesweit viel passiert: Die Überlebenden der Anschläge und Hinterbliebenen der Todesopfer haben ausdauernd darum gekämpft, gehört zu werden und Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Anders als in den Jahren vor 2011 wurde ihre Forderung nach Aufklärung von Teilen der Gesellschaft ernstgenommen und unterstützt, während der Staat in Gestalt verschiedener Landesregierungen und Bundesministerien an entscheidenden Stellen weiterhin mauerte. Obwohl sich der NSU selber als ein “Netzwerk von Kameraden” bezeichnete, wurden im NSU-Prozess lediglich fünf Personen schuldig gesprochen, von denen vier aus Jena stammten. Wie durch die Arbeit engagierter Journalist*innen, Antifaschist*innen, Parlamentarier*innen und Nebenklagevertreter*innen aufgeklärt werden konnte, bestand das Netzwerk des rechten Terrors jedoch aus zahlreichen namentlich bekannten Personen. Alleine aus Jena und Ostthüringen lassen sich Dutzende Personen benennen, die dem Terror den Weg bereiteten und dem NSU-Kerntrio beim Untertauchen und Leben im Untergrund halfen.
Wenngleich die Stadt Jena nach öffentlichem Druck mit der Benennung des Enver-Şimşek-Platzes den Forderungen Hinterbliebener nachkam und aktuell in einer Veranstaltungsreihe wichtige Fragen der gesellschaftlichen Entstehungsumstände des NSU diskutiert, verbleiben die Konsequenzen aus der Terrorserie auf einer diskursiven Metaebene. Von wem die konkrete Gewalt ausging, lässt sich jedoch benennen: Es waren Mitglieder der Jenaer Kameradschaft, der Burschenschaft Normannia, von Rechtsrockbands und rechten Skinhead-Cliquen. Konsequenzen aus dem rassistischen und rechten Terror von Thüringer Heimatschutz und NSU zu ziehen, muss daher auch die Auseinandersetzung mit diesen Personen und ihren Biographien beinhalten. Die Betroffenen der Baseballschlägerjahre in den 90ern und 2000ern müssen genauso wie die Überlebenden und Hinterbliebenen der NSU-Terrorserie für immer mit den Folgen und tiefen Verletzungen leben. Derweil führen viele der TäterInnen[*] und NSU-HelferInnen ein bequemes Leben inmitten der Jenaer Stadtgesellschaft.
Wir haben da einige unbequeme Fragen: Wer sind diese Neonazis und ex-Neonazis, die heute noch in Jena und Umland leben? Welchen Anteil hatten sie an der Entfesselung des rechten Terrors und dem Gelingen der NSU-Mordserie? Wer von ihnen ist heute noch aktiv? Und welche Verantwortung könnten diese Personen heute noch für die Aufarbeitung des rechten Terrors übernehmen? In einer hiermit eingeleiteten Artikelserie wollen wir einige Antworten auf diese Fragen liefern und den Entstehungsumständen des rechten Terrors Gesichter geben.
Die alte Garde rechter Jenaer Hooligans: Kameradschaft Jena-Gladbach
In Jena konnten über das vergangene Jahrzehnt organisierte Nazistrukturen sehr weit zurückgedrängt werden. Als eine der letzten organisierten Gruppen, in der gewaltaffine Neonazis zusammen kommen, kann die Kameradschaft Jena-Gladbach beim FC Carl Zeiss Jena zählen. Die Kameradschaft ist eine Hooligan-Freundschaft aus Vorwendezeiten, deren Mitglieder sich bis heute gegenseitig bei Heim- und Auswärtsspielen besuchen. Noch zu DDR-Zeiten pflegten Anhänger*innen ostdeutscher Fußballvereine, westdeutsche Fans bei ihren Auswärtsspielen in der DDR zu begleiten. Zudem reisten westdeutsche Hooligans in Wendezeiten gern in den Osten, wo die Volkspolizei weniger Erfahrung und Gegenstrategien gegen Krawalle in und außerhalb der Stadien hatte. In Jena hat sich seit Ende der Achtziger eine enge Verbindung zwischen Jenaer Neonazi-Hooligans und ihrer Gladbacher Entsprechung gehalten. Im Stadion fallen die Alt-Hooligans kaum politisch auf. Jenaer Kameradschafts-Mitglieder sind gleichwohl unter den wenigen lokalen Neonazis, die überregional zu Naziaufmärschen und Rechtsrockfestivals fahren. Und auch an den jüngsten Protesten von Pandemieleugner*innen beteiligten sich Teile von ihnen. Grund genug, einen genaueren Blick auf ihre Netzwerke zu werfen. Weiterlesen
„Volk ans Gewehr!“ – Neonazi übernimmt Führung im Jenaer Gartenverein Am Birnstiel
Im Kleingartenverein Am Birnstiel in Jena-Süd gibt es Streit: Den Betreiber*innen des örtlichen Gartenlokals droht die Kündigung, der Vereinsvorstand tritt vorzeitig zurück und es steht eine polarisierte Neuwahl bevor. Soweit nichts Ungewöhnliches für deutsche Vereinskultur, möchte man meinen. Der genauere Blick auf einen aussichtsreichen Kandidaten für den Vorstandsposten lässt jedoch Ungutes erahnen: Steven Schmied, der bereits kommissarischer Vorstand ist, ist ein Neonazi mit lange zurückreichenden Kontakten in die Jenaer Naziszene um NSU-Helfer Ralf Wohlleben. Schmied verbreitet im Netz NS-Ideologie, rassistische und antisemitische Hetze und ruft mit SA-Parolen zum bewaffneten Sturz der Regierung auf. Er beteiligte sich zudem an Kundgebungen der AfD in Jena. Sollte Schmied sich als Vorstand durchsetzen, strebt er auch eine Übernahme des Gartenlokals an. Weiterlesen
Jenaer Polizei fahndet nach Normannia-Burschenschafter
Mit einer Öffentlichkeitsfahndung vom 29.03.2021 bittet die Jenaer Kriminalpolizei um Hinweise zu einem unbekannten Buspassagier, der am 08.08.2020 einen 21-Jährigen bewusstlos geprügelt haben soll. Wer die Veröffentlichungen zur Neonazi-Burschenschaft Normannia auf diesem Blog aufmerksam verfolgt hat, könnte bereits eine Ahnung haben, wer da gesucht wird: Christian Heilmann, Neonazi aus den Kreisen von NSU-Helfer Ralf Wohlleben und aktiver Burschenschafter der Normannia zu Jena und Arminia zu Leipzig. Zweieinhalb Wochen vor der mutmaßlichen Tat war auf diesem Blog ein ausführliches Porträt des rechten Aktivisten erschienen.
Frontex Files’ am Beutenberg: Jenaer JENETRIC GmbH liefert Technik zur Geflüchtetenabwehr
Am vergangenen Freitag berichtete Jan Böhmermann in der Sendung ZDF Magazin Royale über Verstrickungen der Rüstungsindustrie mit der EU-Grenzschutzbehörde Frontex. Während der Sendung veröffentlichte das ZDF Magazin Royale eine umfangreiche Sammlung interner Frontex-Dokumente, in denen diese Treffen dokumentiert wurden.
Insgesamt gab es zwischen 2017 und 2019 16 Treffen von Frontex mit diversen Unternehmen. Aus der Recherche des Böhmermann-Teams: „Externe Beobachter*innen gab es bei den Treffen nicht. Und Frontex hat die Inhalte dieser Treffen nicht öffentlich zugänglich gemacht.… In den teils themenspezifischen Treffen wurden unterschiedliche Gerätschaften präsentiert, die zur Verteidigung der EU-Außengrenzen dienen sollen. Dazu gehören Handfeuerwaffen, Munition und Überwachungsgeräte wie Sensoren, Drohnen, Kameras und Server für die Speicherung von biometrischen Daten.“
Mit dabei ist auch die Jenaer Firma JENETRIC GmbH, die ihren Sitz in der Moritz-von-Rohr Straße 1a, direkt neben dem Campus der Ernst-Abbe-Hochschule, hat. Das Unternehmen wurde 2014 gegründet und ist spezialisiert auf die Herstellung von Fingerabdruckscannern. Diese bewirbt es unter anderem für die Verwendung zur Grenzkontrolle. Dabei verwendet JENETRIC den zynischen Slogan „Enjoy biometrics to guarantee national security.“ für das Marketing ihrer Produkte. Insgesamt sind drei Frontex-Konferenzen in den Jahren 2018 und 2019 dokumentiert, an denen JENETRIC teilgenommen hat und Vorträge zur Bewerbung ihrer Technologie für den Einsatz in der EU-Abschottungspolitik hielt.
Szene-Models, Kameradschafterinnen und rechte Geschäftsfrauen: Loco Artista Neueröffnung in Apolda
Was in Jena nicht gelang, soll nun in Apolda verwirklicht werden. Unter dem Namen Loco Artista gab es bereits bis 2018 ein von Neonazis betriebenes Tattooostudio in Jena. Die Wiedereröffnung mit den neuen EigentümerInnen, Jeffrey Weißenborn und Theresa Szymocha, wurde aufgrund von Veröffentlichungen zu deren neonazistischen Kontakten und darauffolgender Proteste im Sommer 2020 verhindert (frühere Artikel dazu 1, 2, 3, OTZ). Jeffrey Weißenborn hat mittlerweile in der Stauffenbergallee 30 in Erfurt ein neues Studio. Seine Partnerin Theresa Szymocha kündigte nun an, in Kürze mit Weißenborns Schwester, Jaimie Weißenborn, in Apolda ein weiteres Loco Artista Studio zu eröffnen. Wir legen nun weitere Belege für Szymochas Einbindung in die organisierte Kameradschaftsszene in Apolda vor. Auch ihre Geschäftspartnerin Jaimie Weißenborn ist keine Unbekannte hinsichtlich ihrer Verbindungen zu Neonazis: Sie gehört nicht nur zu einem Freundeskreis weit vernetzter örtlicher Neonazis, sondern trat, genau wie Theresa Szymocha, schon als Model für den Apoldaer Neonazi-Versandhandel Nordrausch auf. Zudem eröffnet das Studio im Wohnhaus einer altbekannten Rechten. Die Neueröffnung des Tattoostudios erweitert somit das Netzwerk der extrem rechten Szene um ein weiteres Objekt in Apolda.
Artenschutz für Rechtsaußen: Welche Burschen die CDU für besonders schützenswert hält
Am 17.09.2020 debattierte der Jenaer Stadtrat auf Antrag von der CDU zum Thema “Sicherheit und Akzeptanz von Verbindungsstudenten in Jena”. Auslöser der Debatte war ein offener Brief vom 19.02.2020 verfasst von den Jenaischen Burschenschaften Armina, Germania und Teutonia. Im August legte die Burschenschaft Teutonia, Mitglied im Burschen-Verband Süddeutsches Kartell, mit einem persönlichen Brief an den Oberbürgermeister nochmal nach. Sie sorgten sich um ihre Sicherheit, im Speziellen für ihre bundesweite Zusammenkunft von Verbindungen des Süddeutschen Kartells in Jena am 03.10.2020. Im Rahmen der Stadtratssitzung kamen dann auch Vertreter von Rechtsaußen-Burschenschaften selbst zu Wort. Doch für wen fordert die CDU mit ihren Sidekicks FDP und AfD da Solidarität und warnt gar vor gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegen Burschenschafter?
Dass Burschenschaften wichtige Stützpunkte der AfD, der Identitären und der früheren Aktivisten von NPD und Thüringer Heimatschutz sind, wird seit Langem durch antifaschistische Recherchen immer wieder belegt. In der Recherche vom 23.8.2020 haben wir bereits über die beiden extrem rechten Jenaer Burschenschaften Normannia und Alte Burschenschaft auf dem Burgkeller Jena berichtet. Dass die anderen drei Jenaer Burschenschaften Teutonia, Arminia und Germania, auf deren Bedürfnisse die Stadtratsdebatte zurückgeht, nicht minder problematisch sind, wollen wir in dieser Recherche untermauern.
Christian Heilmann – Von Wohlleben über die Normannia bis zur Identitären Bewegung
Christian Heilmann ist ein weiteres Mitglied der extrem rechten „Burschenschaft Normannia zu Jena“. Der Ausgangspunkt seiner politischen Entwicklung sind die Neonazi-Netzwerke zwischen Jena und Kahla, die ihn zu JN-Veranstaltugen, zu Aufmärschen der „Identitären Bewegung“, der AfD, von „EinProzent“ und „PEGIDA“ führen. Dabei hält er stehts den Kontakt zu militanten Kameraden und altgedienten Rechtsterroristen.
Politisierung durch Ralf Wohllebens NPD und die Thüringer Kameradschaftsszene
Christian Heilmann, 29 Jahre alt, stammt aus Jena, wo er in der Nähe des Friedensberges im Jena-Süd wohnte. Heilmann war bis zur Verhaftung des NSU-Helfers Wohlleben eine von dessen Jenaer Kontaktpersonen. Als die Normannia 2009 aus dem braunen Haus in Jena-Altlobeda nach Kahla in die Burg 19 verzog, knüpfte auch Heilmann politisch und sozial an die dortigen Strukturen an. Mit Tobias Winter aus dem Landkreis Sömmerda, seinem heutigen Normannia-Kamerad Martin Schieck und Mitgliedern der Erfurter Kameradschaftsszene um Enrico Biczysko oder Martin Gärtlein nahm Christian Heilmann beispielweise an einem Zeitzeugengespräch teil. In jener Zeit war er bereits Fan des National Socialist Black Metal (NSBM), wie er mit Aufnähern und Pullovern von „Burzum“ oder „Absurd“ kundtat, die er auch heute noch verehrt. Die Sänger dieser Bands haben ihren Kultstatus in der NSBM-Szene jeweils mit Morden erlangt.
Finales Update: Loco Artista komplett geräumt – Ende gut, alles gut?
Kurz nachdem wir zur Wiedereröffnung des Neonazi-Tattostudios Loco Artista am 8. Juni in Jena über dessen Hintergründe informiert hatten, hatte eine der zwei TätowiererInnen, „Resi Ink“, bereits ihren Rückzug erklärt. Ihr Partner Jeffrey Weißenborn alias „EiskaltInk“ wollte unter Berufung auf die vermeintlich große Unterstützung seiner Instagram-Follower*innen trotz antifaschistischer Proteste am Standort Jena-Süd festhalten. Unseren Recherchen nach scheint er jedoch kurz darauf, den Mietvertrag seinerseits gekündigt zu haben. Dass es für ihn in Jena nicht gut lief, zeigte sich bereits an den permanenten Rabatt-Angeboten und freien Terminen, die er auf Instagram bewarb. Ende Juni kündigte sich dann bereits ein Ende auf Raten an – nicht ohne zuvor nochmal seine politische Haltung klarzumachen.