Jenaer Kontinuitäten und fehlende Konsequenzen aus dem NSU-Komplex (2): Durch ein halbes Dutzend Jenaer Hände – Wie organisierte Kriminelle und Neonaziszene die NSU-Mordwaffe beschafften

Madley – bis 2009 rechter Szeneladen in der Wagnergasse Jena (Foto: Indymedia)

Der NSU beschaffte sich im Laufe seines Bestehens eine Vielzahl an Waffen. Beim Großteil der Waffen wurde die Herkunft bis heute nicht aufgeklärt. Eine Waffe hatte jedoch eine besondere Bedeutung im NSU-Komplex, da mit ihr alle bekannten rassistischen Morde des NSU begangen wurden: Die Česká 83. Bei der Analyse des Beschaffungswegs dieser Waffe zeigt sich die enge Verflechtung von Neonazi-Szene und organisierter Kriminalität in Jena gegen Ende der 1990er Jahre.

Im Jahr 1999 war das NSU-Kerntrio bereits seit einem Jahr im Untergrund. Zu diesem Zeitpunkt richteten sich die drei an ihr UnterstützerInnennetzwerk in Jena mit der Anfrage nach einer scharfen Waffe, bei der es sich möglichst um ein deutsches Fabrikat handeln sollte. Kontaktperson für Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe war zu diesem Zeitpunkt der Jenaer NPD-Funktionär Carsten Schultze. Ralf Wohlleben und André Kapke, die die Unterstützung der untergetauchten Kameraden in Jena koordinierten, hatten Schultze als Kontaktperson bestimmt, da sie selbst fürchteten, zu stark im Fokus der Behörden zu stehen. Als Schultze die Anfrage für eine scharfe Waffe erhielt, gab ihm Wohlleben den Tipp, sich an den Szeneladen „Madley“ in der Wagnergasse 9 zu wenden. Im „Madley“ konnte Schultze die Anfrage an den Mitbetreiber Andreas Schultz weitergeben, der über seine Kontakte in die organisierte Kriminalität wenig später eine Česká-Pistole mit Schalldämpfer und Munition an Carsten Schultze verkaufte. Schultze übergab kurz darauf in Chemnitz die Waffe an Mundlos und Böhnhardt.

Dreh- und Angelpunkt: Szeneladen „Madley“

Der 1973 geborene Andreas Schultz stammt aus Potsdam und vertrat schon Ende der 1980er Jahre rechte Ideologie, weshalb er nach seinem Schulabschluss in den Jugendwerkhof nach Wolfersdorf im Saale-Holzland-Kreis kam. Bei den Jugendwerkhöfen handelte es sich um Jugendheime, die in das System der Jugendhilfe der DDR eingegliedert und für als „schwererziehbar“ eingestufte Jugendliche bestimmt waren. Hier sollten die Jugendlichen zu sozialistischen Bürger*innen erzogen werden. In Trockenborn bei Wolfersdorf lebt Schultz bis heute. Nach seiner Zeit im Jugendwerkhof begann er eine Ausbildung in Jena und fand dort Anschluss an die rechte Szene. So entstand auch der Kontakt zu Frank Liebau, mit dem zusammen er 1995 den rechten Szeneladen „Madley“ in der Jenaer Wagnergasse eröffnete. Der Laden diente von den 1990ern bis zum Ende der 2000er als wichtiger Anlaufpunkt, in dem sich die gesamte Jenaer Naziszene mit Kleidung und neonazistischen CDs eindeckte. 1998 versuchten Liebau und Schultz einen zweiten Laden unter dem Namen „Hatebrothers“ in Jena-Ost zu etablieren, der sich jedoch nur ein halbes Jahr halten konnte.

Flyer zur Eröffnung des “Hatebrothers”-Laden in Jena-Ost 1999.

Der Name „Hatebrothers“ ist dabei keine zufällige Wahl, gehörte doch auch Schultz zur Skinhead-Gruppe „Hatebrothers 88“ aus dem Raum Kahla-Stadtroda. Zusammen mit weiteren Mitgliedern der Hatebrothers reiste Schultz am 13.02.1998 nach Budapest, um an einem Gedenken an Mitglieder der Waffen-SS teilzunehmen. Die Busfahrt wurde durch die Thüringer Blood&Honour-Sektion über das Busunternehmen „Herzum Tours“ organisiert. Herzum dient heute wieder der rechten Szene, wenn Busfahrten für die „Patrioten Ostthüringen“ zusammen mit AfD-Kreisverbänden aus Ostthüringen durchführt. Mit im Bus nach Budapest 1998 saß auch der Chemnitzer Neonazi Max-Florian Burkhardt. Zeitgleich zur Budapest-Reise zogen Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in dessen Wohnung ein, nachdem sie erst zwei Wochen zuvor aus Jena nach Chemnitz geflohen waren. In Budapest entrollten Andreas Schultz und die Hatebrothers ihre Fahne auf dem Aufmarsch.

Madley-Betreiber Andreas Schultz (links an der Hatebrothers-Fahne) mit den „Hatebrothers 88 Kahla“ in Budapest 1998 (Foto: New Europe)

Andreas Schultz pflegte zur selben Zeit auch Kontakte in mafiöse Kreise, zu denen auch der Jenaer Neonazi Jürgen Länger gehörte. Länger war gleichzeitig notorischer Krimineller als auch Teil der rechten Szene. Andreas Schultz verband mit Länger eine Freundschaft. Nachdem Carsten Schultze im Madley nach einer Waffe gefragt hatte, setzte sich Andreas Schultz mit seinem Freund Jürgen Länger in Verbindung. Dieser nutzte dann seine Unterwelt-Kontakte, um die Waffe aus der Schweiz anzuschaffen. Länger stand auch in gutem Verhältnis mit der Gruppe Hatebrothers 88 um Andreas Schultz. Zwar hatte die Ladeneröffnung von „Hatebrothers“ durch Schultz und Liebau keinen Erfolg. Aber mit Mario Beythien hatte ein anderes Hatebrothers-Mitglied eine Kleidungsmarke unter demselben Namen gegründet. Jahre, nachdem auch Beythien die Marke Hatebrothers nicht mehr weiter nutzte, wandte sich Jürgen Länger an Beythien: Er wollte die Rechte an der Marke von Beythien übernehmen. Beythien zeigte sich zwar einverstanden, jedoch scheiterte die Übernahme daran, dass der Name und die Symbolik von den Behörden nicht als schützenswerte Marke anerkannt wurden.

Der zweite Betreiber des Ladens „Madley“ war Frank Liebau aus Laasdorf. Er war in den 1990ern als Organisator von neonazistischen Konzerten in Jena und Umgebung aktiv und pflegte gute Kontakte zu großen Teilen der Jenaer Neonaziszene wie auch zu den Köpfen der „Ehrhardt-Bande“ um die Zwillinge Ron und Gil Ehrhardt (heute Gil Wolf). Diese bestimmten in den 1990er Jahren die organisierte Kriminalität in Jena. Frank Liebau stellte den Ehrhardt-Brüdern Mundlos und Böhnhardt vor deren Untertauchen vor, als diese sich Geld leihen wollten. Zur Ehrhardt-Bande zählte auch der Jenaer Enrico Theile, der vor dem Untertauchen des NSU-Kerntrios freundschaftlichen Kontakt zu Uwe Böhnhardt pflegte. Bis heute hat Theile eine Garage in Jena-Burgau im selben Garagenkomplex, in dem die NSU-Bombenwerkstatt lag, in der er vor dem Untertauchen des Trios zusammen mit Böhnhardt an Autos schraubte. Theile besaß laut Zeug*innenaussagen mehrere scharfe Waffen, die u.a. in dieser Garage gelagert wurden. 1999 wurde er verdächtigt, zusammen mit Andreas H. und Ron Ehrhardt einen Überfall auf einen Geldtransporter in Jena-Lobeda begangen zu haben, bei dem eine Person durch mehrere Schüsse lebensgefährlich verletzt wurde. Das Verfahren wurde jedoch 2002 eingestellt, da die Täterschaft trotz starker Indizien nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte.

Garagenkomplex in Jena-Burgau, in dem sich die NSU-Bombenwerkstatt befand (Foto: Rechercheportal Jena-SHK)

Organisierte Kriminalität und Naziszene Hand in Hand

Die Schweiz war eine wichtige Quelle zur Beschaffung von scharfen Waffen für die Jenaer Ehrhardt-Bande, da dort lockerere Waffengesetze galten. Man pflegte gute Kontakte zum Schweizer Waffenhändler Hans-Ulrich Müller, der in den 90ern für einige Jahre in Apolda lebte. Auch die NSU-Mordwaffe Česká 83 nahm ihren Weg über die Schweiz und Hans-Ulrich Müller nach Jena. Nachdem Carsten Schultze die Bestellung beim Madley-Betreiber Andreas Schultz aufgegeben hatte, wandte sich Schultz an den Neonazi Jürgen Länger, der gleichzeitig in unpolitischen, schwerkriminellen Kreisen verkehrte. Länger wiederum teilte mit seinem Freund Enrico Theile die Kontakte zu Hans-Ullrich Müller in der Schweiz. Zumindest Enrico Theile hielt diese Kontakte bis 2012 und darüber hinaus. In einer polizeilichen Vernehmung gab er selber an, dass er das Bindeglied zwischen Müller und Jena sei. Damit ergibt sich, dass Theile mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in die Vermittlung des Waffengeschäfts für die NSU-Mordwaffe involviert war. Ein weiteres Mitglied der Ehrhardt-Bande sagte außerdem aus, dass in Jena zu dieser Zeit kein Waffendeal ohne das Wissen der Ehrhardt-Zwillinge stattgefunden habe. Weiterhin gab dieser Zeuge an, dass es innerhalb der Ehrhardt-Bande bis zum Jahr 2000 Überlegungen gegeben hätte, die rechte Szene zu bewaffnen, um gemeinsam mit dieser ausländische Banden zu bekämpfen. Die damaligen Anführer der Bande Ron Ehrhardt und Gil Wolf verweigerten vor Gericht vollständig die Aussage.

Der Weg der Mordwaffe von der Schweiz bis zum NSU-Kerntrio

Bei Jürgen Länger zeigt sich die Verschränkung von organisierter Kriminalität und extrem rechter Ideologie in einer Person. Länger war bereits zu Beginn der 1990er Jahre als rechter Skinhead aktiv und nahm in dieser Zeit auch an Rudolf-Hess-Gedenkmärschen teil. Bei einem Gefängnisaufenthalt 1993 in der JVA Hohenleuben lernte er Uwe Böhnhardt und den Rudolstädter Sven Rosemann kennen, der damals die Anti-Antifa Ostthüringen mit aufbaute. Zu Rosemann pflegt Länger bis heute eine Freundschaft. Dieser nahm auch am NSU-Prozess in München als Zuschauer teil, als Länger aussagen musste. Seine Aktivitäten in der organisierten rechten Szene nahmen in der Mitte der 90er Jahre ab, als er sich stärker der organisierten Kriminalität zuwendete. Ideologisch gebrochen hat er jedoch nie. Er nahm auch noch Ende der 2000er Jahre an Neonazi-Aufmärschen teil und erkundigte sich bei Wohlleben nach Terminen für rechte Demonstrationen. Als er in einer polizeilichen Vernehmung nach seiner Meinung zu den Morden des NSU befragt wurde, sagte er zunächst, dass das nur Verschwörungstheorien seien und es nicht so gewesen sei, wie erzählt werde. Erst auf mehrfache Nachfrage verurteilte er die Taten, wenn diese tatsächlich so gewesen seien, wie gesagt werde. Dabei zog er in Zweifel, dass die Morde tatsächlich dem NSU zugeordnet werden können.

Exemplarisch zeigen sich am Beschaffungsweg der Česká-Mordwaffe sowohl strukturelle Verstrickungen als auch direkte personelle Überschneidungen zwischen organisierter Kriminalität und Neonazi-Szene in Jena. Dabei hatten Personen aus dem kriminellen Milieu keine Hemmungen, Neonazis eine scharfe Schusswaffe inklusive Schalldämpfer zu besorgen, bei der davon ausgegangen werden muss, dass sie zum Morden eingesetzt wird. Strafrechtliche Konsequenzen hatte die Waffenbeschaffung bis heute für niemanden außer für Carsten Schultze und Ralf Wohlleben. Schultze wurde im Münchner NSU-Prozess zu einer Jugendstrafe verurteilt, Wohlleben musste seine Strafe, nachdem er aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, bis heute nicht antreten. Schultze war der einzige der Beteiligten, der Reue zeigte und umfassend aussagte. Dies geschah jedoch erst nach der Selbstenttarnung des NSU. Hätte er sein Wissen schon eher geteilt, hätten möglicherweise zahlreiche Morde des NSU verhindert werden können.

Enrico Theile (l.) und Jürgen Länger (r.)

Enrico Theile und Jürgen Länger waren nach dem Waffendeal weiter im kriminellen Bereich aktiv. Gemeinsam verübten sie in den 2000er Jahren mutmaßlich eine Serie von Bankautomatensprengungen. Beide können weiter unbehelligt in Jena leben. Länger hat in Altlobeda gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder eine Wohnung in der Straße Am Küchenhof 3. Den Sommer verbringt er meist im Ausland, wo er als Tauchlehrer arbeitet. Theile lebte in den 2000er Jahren bis 2012 zeitweise in Limburg in Hessen, zog dann aber zurück nach Jena. Er hat noch heute seine Garage im Garagenkomplex in Jena-Burgau, wo auch die NSU-Bombenwerkstatt war, und hält sich dort häufig auf.

Andreas Schultz arbeitete noch bis 2003 im „Madley“. Anschließend eröffnete er einen Kiosk im Waldbad in Wolfersdorf und arbeitete danach als Hausmeister im Schloss Wolfersdorf. Er lebt heute im Haus Nr. 21 in Trockenborn neben Wolfersdorf. Frank Liebau betrieb das „Madley“ noch bis 2009 und eröffnete anschließend einen weiteren Szeneladen in Stadtroda, den er bis 2011 betrieb. Er lebt bis heute in Laasdorf in der Straße Im Kleinen Dorf 11.