#ehrenlos – Ostthüringer Neonazis beim Wehrmachts- und SS-Gedenken in Budapest

Sebastian Dahl (1.v.r.) beim „Tag der Ehre“ in Budapest am 9.2.2019 (Foto: Recherchenetzwerk Berlin)

Zum „Tag der Ehre“ pilgern seit Jahren Dutzende deutsche Neonazis am zweiten Februarwochenende nach Budapest. Das Gedenken an den aussichtslosen Ausbruchsversuch deutscher und ungarischer Nazis aus dem von sowjetischen Truppen umzingelten Budapest im Februar 1945 stellt das jährlich größte Vernetzungstreffen europäischer Neonazis dar. Neben der Möglichkeit, ungestraft SS-Symbole tragen zu dürfen, sind Rechtsrockkonzerte und eine Wanderung auf den Spuren ihrer historischen Vorbilder ein Anziehungspunkt für die gesamte radikale Rechte. Auch aus Ostthüringen fahren seit Jahren Neonazigruppen nach Budapest. Darunter sind militante Kampfsportler, Aktivisten des verbotenen „Blood&Honour“-Netzwerks, bekannte Shoa-Leugner, Neonazi-Burschenschafter mit Vergangenheit im „Thüringer Heimatschutz“, Rechtsrock-Musiker – und Björn Höckes heutiger Fotograf. Unter Mitwirkung eines Apoldaer Rechtsrockers wurde außerdem zu diesem Jahr ein ganzes Themenalbum zum „Ausbruch“ 1945 produziert. Kürzlich begann in Budapest der Prozess gegen Antifaschist*innen, denen Angriffe auf Neonazis beim Gedenken 2023 vorgeworfen werden. Der Darstellung ungarischer Offizieller zufolge handelt es sich beim „Ausbruch“ um ein touristisches Event historisch interessierter SportlerInnen. Dementsprechend sind auch Rechte aus dem Fidesz-Umfeld in die Organisation eingebunden und die Neonazi-Veranstaltung erhält staatliche Förderung. Dieser Verharmlosung und Geschichtsverdrehung wollen wir mit einem Überblick zur Beteiligung militanter Ostthüringer Nazis deutlich widersprechen.

Rechtsrocker, Blood&Honour und Björn Höckes heutiger Fotograf

Konzert von „Blood&Honour“ Ungarn zum „Tag der Ehre“ 2019

Viele deutsche Anreisende zieht es in Budapest primär zu den Rechtsrockkonzerten, die rund um den „Tag der Ehre“ veranstaltet werden. Der 60km-Marsch am Folgetag ist weitaus unpopulärer. Die Organisation der Konzerte geht regelmäßig auf die ungarische „Blood&Honour“-Division zurück, die zumeist mehrere namhafte Bands aus Ungarn und dem europäischen Ausland einlädt. Doch auch die ungarischen „Hammerskins“, die das jährliche Neonazi-Gedenken am Vortag des Marsches ausrichten, veranstalten immer wieder Konzertabende rund um den Jahrestag. Teilweise gibt es auch Konzertabende der Hammerskins, wie etwa 2020, als „FLAK“ aus Deutschland und „Green Arrows“ aus Italien angekündigt waren. Häufiger wurde hierbei erst ein Auftaktkonzert mit mehreren Liedermachern und Tags darauf ein Konzertabend mit Bands veranstaltet. Als Liedermacher trat im Rahmen von „Blood&Honour“ in den Jahren 2014 und 2015 der in Saalfeld ansässige Tobias Winter alias „Bienen Mann“ in Budapest auf. Für den Auftritt 2014 brachte der damals noch in Kahla ansässige Winter den aus Dreitzsch im Saale-Orla-Kreis stammenden Neonazi Martin Schieck mit. Schieck ist seit 2019 Fotograf und Filmer der Thüringer AfD-Landtagsfraktion und begleitet in dieser Funktion Björn Höcke auf Schritt und Tritt. Gemeinsam mit Kadern der niederländischen „Blood&Honour“-Division verbrachten Schieck und Winter 2014 einen Abend in der Kneipe in Budapest. Winter marschierte zum „Tag der Ehre“ auch neben den Niederländern auf.

Links: Tobias Winter (mittig hinten in grau) und Martin Schieck (rechts vorne in kariertem Hemd) mit Mitgliedern der holländischen Blood&Honour-Division in Budapest 2014, darunter Pepijn Heerkens (3.v.l.) und Arend Jongeling (hinten vor Garderobe); rechts: Winter (1.v.l.) mit u.a. Jongeling (2.v.l.) und Heerkens (Mitte) beim „Tag der Ehre 2014) (Bilder: Facebook und Thüringen Rechtsaußen)

An der „Ausbruch“-Wanderung 2019 beteiligten sich weitere Rechtsrockmusiker: Neben Stefan Behrens von der Rechtsrockband „Kategorie C“ und dem in Feilitzsch bei Hof lebenden Frank Rennicke, der seit Jahrzehnten als NS-Liedermacher auftritt, lief auch Axel Schlimper aus Haselbach bei Sonneberg mit. Schlimper tritt immer wieder als „Liedermacher Axel“ oder gleich unter Klarnamen auf, in den jüngeren Jahren vermehrt auch auf Reichsbürger-Treffen.

(v.l.n.r.) Frank Rennicke, Stefan Behrens und Axel Schlimper beim „Ausbruch“-Marsch bei Budapest am 10.2.2019 (Bild: Youtube)

Die erst 1,5 Jahre alte Rechtsrockband „Symphonie des Blutes“, bei der Neonazis aus u.a. Sachsen und Thüringen mitwirken, veröffentlichte bei „Rebel Records“ aus Cottbus jüngst ein ganzes Themenalbum unter dem Titel „Tag der Ehre“ und den dazugehörigen Song „Wir brechen aus“. Aus Apolda ist daran das Bandmitglied Benny Meusel beteiligt, der seit seinem Rückzug aus dem zerfallenen Erfurter Stützpunkt des III. Weg bereits mehrfach Ambitionen zum Nazi-Liedermacher zeigte. Als solcher trat er am 29.4.2023 auch spontan in Tommy Frencks Kneipe „Zum Goldenen Löwen“ in Kloster Veßra auf, wo Nico Roth alias „Heureka“ ein Konzert gab. Ein ganzes Album dem Märtyrerkult vom Budapester „Ausbruch“ zu widmen, unterstreicht nochmal die Relevanz, die das dortige NS-verherrlichende Gedenken in der deutschen Neonaziszene einnimmt.

(v.l.n.r.) Andy Benkendorf (Apolda), Benny Meusel (Symphonie des Blutes) und Nico Roth alias Liedermacher „Heureka“ in Kloster Veßra am 29.4.2023; rechts das Cover von „Tag der Ehre“ (Foto: Soziale Medien)

Militante Kampfsport-Netzwerker

Die „Ausbruch“-Wanderung ist gerade unter solchen Neonazis beliebt, die auch sonst viel Wert auf eine Selbstdarstellung als disziplinierte und schmerzfreie Sportler legen und diese als Vorbereitung auf militante Umstürze an einem vermeintlichen „Tag X“ inszenieren. So liefen in Budapest mehrfach Aktivisten des Netzwerks „Kampf der Nibelungen“ mit, das bis zum faktischen Verbot vor einigen Jahren eine Reihe Kampfsportevents für Neonazis etabliert und kommerziell vermarktet hatte. Aus dem ostthüringischen Schmölln zählt dazu der Kickboxer Martin Langner, der das Gym „Barbaria Schmölln“ betreibt. In seinem Gym wurde der KdN 2020 ohne Öffentlichkeit abgehalten und für eine Streaming-Vermarktung gefilmt. Nachdem das Gym an jenem Standort im Frühjahr 2021 ausbrannte, erwarb Langner ein 3000qm² großes Gewerbeobjekt in der Altenburger Str. in Schmölln, in dem seither bereits Rechtsrockkonzerte und Kampfsporttrainings für jugendliche AnhängerInnen des III. Weg stattfanden. Martin Langner ist selber Aktivist beim III. Weg. Langner lief 2017 und 2020 bei der Budapester NS-Wanderung mit. Wie EXIF-Recherche vergangenes Jahr dokumentierte, war Langner im Mai 2023 in die Organisation des internationalen Neonazi-Kampfsportevents „European FightNight“ in Ungarn involviert. Dieses Event sollte die ausgefallenen Veranstaltungen vom „Kampf der Nibelungen“ (KdN) in Deutschland ersetzen, weswegen das gesamte Organisationsteam vom KdN auch in Ungarn vor Ort war. Mit der „European FightNight“ wurden Vernetzungen militanter Neonazis und Hooligans aus verschiedenen europäischen Ländern vertieft.

Martin Langner (1.v.l.) beim „Ausbruch“-Marsch in Budapest am 9.2.2020 (Foto: Recherchenetzwerk Berlin)

Ein weiterer früherer Ostthüringer Kämpfer des KdN, der mehrfach in Budapest mitlief, ist Sebastian Dahl aus Pößneck. Dahl stammt aus Berlin und war dort in einer Aktionszelle des rechtsterroristischen Netzwerks „Combat 18“ aktiv. Für den Versuch, schlafende Jugendliche bei einem alternativen Festival per Brandsatzwurf umzubringen, musste Dahl für fünf Jahre ins Gefängnis. Nach seinem Umzug nach Kahla bei Jena war Dahl im Kameradschaftsmilieu um die früheren Jenaer Nazis des „Freien Netz“ (FN) aktiv, bevor er der 2015 gegründeten und 2021 polizeilich zerschlagenen Neonazi-Mafia-Struktur „Turonen – Garde 20“ beitrat. In dieser Zeit trainierte Dahl Kickboxen und ließ sich von Martin Langner und dessen „Barbaria“-Team auf seine 2016 und 2017 absolvierten Kämpfe beim KdN vorbereiten. 2016 marschierte er mit dem Berliner Kader vom III. Weg und dem KdN-Netzwerk, Oliver Oeltze, bereits bei der Budapester „Ausbruch“-Wanderung mit. Im Jahr 2019 gehörte Dahl zu einer Gruppe um den Neonazi-Kameradschafter und Shoa-Leugner Martin Gärtlein aus Guthmannshausen und den Südthüringer Axel Schlimper, die sich an der Wanderung auf den Spuren von Wehrmacht und SS in Ungarn beteiligten. Im selben Jahr stieg Dahl bei den „Turonen“ aus, um sich einer neu gegründeten „28 Crew“ anzuschließen, die einen Platz im in Deutschland verbotenen, militanten Netzwerk von „Blood&Honour“ beansprucht.

Matthias Fischer (III. Weg) und Sebastian Dahl (r.) beim Start des „Ausbruch“-Marsches in Budapest am 9.2.2019 (Foto: Pixelarchiv)

 

Shoa-Leugner mit Verbindungen zu rechtsterroristischem Netzwerk

Ralf Gabel (1.v.l.), Sebastian Dahl (2.v.l.), Frank Rennicke (3.v.l.), Lars Wilhelmj (4.v.l.), Fabian Matthes (9.v.l., m. Umhängetasche) bei einem Gruppenfoto zum „Tag der Ehre“ in Budapest 2019 (Foto: Facebook)

Axel Schlimper, der 2019 zu der größeren Reisegruppe aus Ostthüringen gehörte, zählte bis zur polizeilichen Zerschlagung 2017 zur „Europäischen Aktion“, die im deutschsprachigen Raum Shoa-LeugnerInnen vereinigte. Den Razzien 2017 gingen Ermittlungen zu einem Mord in Ungarn voraus. Der Mitgründer des Budapester NS-Gedenkens, Istvan Györkös, hatte bei einer Razzia 2016 einen Polizisten erschossen. Die Tatwaffe soll der Österreicher Peter Karsay geliefert haben, mit dem sich Schlimper 2014 in Wien getroffen hatte. Die „Europäische Aktion“ führte unter Schlimpers Anleitung wehrsportähnliche Camps in Thüringen durch. Als Schlimpers Haus in Haselbach durchsucht wurde, fand die Polizei auch Waffen und Munition. Perfiderweise soll Györkös‘ Neonazigruppe MNA vor dessen Verhaftung den islamistischen und antisemitischen Bataclan-Attentäter Salah Abdeslam zu Gast gehabt haben. Zum NS-Gedenken 2019 kam zusammen mit Schlimper und Frank Rennicke auch Martin Gärtlein, der ebenso zur „Europäischen Aktion“ zählte und später in der von ShoaleugnerInnen betriebenen „Gedächtnisstätte“ Guthmannshausen wohnte. Gärtlein trug 2019 und 2020 zur Wanderung in Budapest eine SS-Uniform.

Martin Gärtlein (Mitte) in Budapest am 8.2.2020 (Foto: Recherche Nord)

Aus Gera kam 2019 mit dieser Gruppe auch der Neonazi-Kameradschafter Fabian Matthes. Matthes zählte früher zur Gruppe „Vollstrecker Gera“, die an der Organisation des jährlichen Rechtsrockfestivals „Rock für Deutschland“ beteiligt war. Nach Beteiligungen an NPD-Aufmärschen tauchte Matthes ab 2020 auf verschwörungsideologischen Coronademos auf und bewegte sich dabei auch im Umfeld der seit 2023 verbotenen „Artgemeinschaft“, die einen klassischen Rassismus und Antisemitismus vertrat und ein Sammelbecken verschiedenster rechtsterroristischer Milieus darstellte. Matthes nahm bereits an verschiedenen Veranstaltungen und Treffen der ShoaleugnerInnen in Guthmannshausen teil.

Fabian Matthes bei der „Ausbruch“-Wanderung bei Budapest 2019 (Bild: Youtube)

Mit Ralf Dieter Gabel aus Kamsdorf bei Saalfeld zählte 2019 außerdem ein langjähriger Neonazi-Aktivist zur Ostthüringer Reisegruppe. Gabel war Mitgründer des „Thügida“-Vereins, mit dem er 2014-2016 zahlreiche Naziaufmärsche in Ostthüringen mitorganisierte. Im selben Zeitraum trat er auch als Aktivist der „Europäischen Aktion“ auf und war bundesweit immer wieder bei Aufmärschen und Treffen bekannter ShoaleugnerInnen präsent. 2021-2022 schloss er sich der kurzzeitig aktiven „Neue Stärke Partei“ an und wurde zu deren Bundesvorsitzenden gewählt. Gabel ist außerdem in der Reichsbürger-Gruppe „Verein zur Förderung des Rechtssachverstandes in der Bevölkerung“ aktiv.

Ralf Gabel (oben mittig m. Schirmmütze) am 9.2.2019 in Budapest (Foto: Pixelarchiv)

Diese Thüringer Reisegruppe wurde begleitet und dokumentiert von dem damals noch in Berlin, heute aber vermutlich in Südthüringen ansässigen Neonazi-Filmaktivisten Nikolai Nerling alias „Volkslehrer“. Der glühende Antisemit und notorische Shoa-Leugner Nerling ist im dortigem Umfeld von Axel Schlimper bestens aufgehoben. Seinen jahrelangen Videoaktivismus hat er aufgegeben, da er seinen Lebensunterhalt nicht wie erhofft von den Spenden seiner KameradInnen bestreiten konnte. Nerling ist nach eigenen Angaben aktuell auf der Suche nach einer Immobilie in Thüringen, in der er zukünftig Treffen Gleichgesinnter und völkische Feste feiern will.

Nikolai Nerling (r.) am 9.2.2019 in Budapest (Foto: Pixelarchiv)

Aus der für das Budapest-Gedenken sehr relevanten rechten Reenactment-Szene war 2019 außerdem Lars Wilhelmj aus Erfurt anwesend. Leute wie Wilhelmj verbringen ihre gesamte Freizeit mit dem Sammeln von Militaria und NS-Antiquitäten und dem Nachstellen historischer Kriegsereignisse. In Budapest laufen Hunderte Rechte in historischen Nazi-Uniformen, mit Kunstblut im Gesicht, Anscheinswaffen und Stahlhelmen im „Ausbruch“-Marsch mit und verbringen nahezu ebensoviel Zeit mit Selfies in den nachgestellten Feld-Biwaks wie mit dem 60km-Marsch. Wilhelmj will zwar seine Leidenschaft für deutsche Soldaten 1939-1945 ‚unpolitisch‘ verstanden wissen, pflegt diese NS-Verherrlichung jedoch auch im Thüringer Wald zusammen mit Neonazi-Aktivisten wie Martin Gärtlein.

Lars Wilhelmj (2.v.l.) und Sebastian Dahl (1.v.r.) in Budapest am 9.2.2019 (Foto: Presseservice Wien)

Damals wie heute: Das NSU-Umfeld beim Budapester NS-Gedenken

Budapest 1998: Mirko Kopper (1.v.r.), Cornelia Jacob (3.v.r.), Jörg Brehski (grinsend mittig hinter Hatebrothers-Fahne), NSU-Mordwaffenbeschaffer Andreas Schulz (links an Hatebrothers-Fahne) und Mario Beythien (links hinter Schultz m. blauem Pullover

Infolge der NSU-Selbstenttarnung 2011 wurde vielfach Bezug auf dieses Foto genommen, das 1998 von Kahlaer und Jenaer Nazis in Budapest entstanden ist: Dort posierten die „Hatebrothers 88 Kahla“ neben „Blood&Honour“ Berlin. Zu der Gruppe zählten Neonazi-Skinheads aus Jena, Kahla und Stadtroda. Einer von ihnen war Andreas Schultz, der als Mitbetreiber des Neonazi-Ladens „Madley“ in Jena auf Anfrage von Ralf Wohlleben hin die Ceska-Mordwaffe für das bereits untergetauchte NSU-Kerntrio besorgte. Die Fahrt nach Budapest machten die Nazis aus Jena und dem Saale-Holzland-Kreis damals in einem voll besetzten Bus der Firma „Herzum Tours“ aus dem Geraer Umland, die heute nicht nur im kommunalen Auftrag Überlandlinien fährt, sondern seit Jahren Ostthüringer AfD-Kreisverbände und die Reichsbürger von den „Patrioten Ostthüringen“ durch ganz Deutschland fährt. Neben dem NSU-Helfer Andreas Schultz fuhren weitere Vertraute des NSU-Kerntrios mit, die bald nach der Busfahrt nach Budapest zu den wichtigsten Helfern der Terrorgruppe werden sollten: Jörg Winter, der für Uwe Mundlos vorher bereits Sprengstoff besorgt hatte, war nach dessen Untertauchen mit Blood&Honour Sachsen maßgeblich an der Beschaffung von Geld und Unterkünften für das NSU-Kerntrio beteiligt. Außerdem fuhr Max-Florian Burkhardt mit nach Budapest, der just in jenen Tagen das gerade untergetauchte NSU-Kerntrio in seiner Chemnitzer Wohnung versteckte und Uwe Mundlos später seine Identität für verschiedenste Zwecke überließ.
Das NSU-Kerntrio war nur kurz vor seinem Untertauchen Ende Januar 1998 noch mit der Kameradschaft Jena und deren Verbündeten aus dem „Thüringer Heimatschutz“ auf dem geschichtsrevisionistischen Naziaufmarsch in Dresden mitgelaufen. Neben den späteren NSU-Helfern Ralf Wohlleben und André Kapke zählte zu den Jenaer TeilnehmerInnen in Dresden auch Ralph Oertel. Während der Zeit seiner KameradInnen im Untergrund war Oertel zunächst in der Jenaer NPD und im „Nationalen Widerstand Jena“ unter Ralf Wohlleben aktiv und war Mitgründer der Burschenschaft „Normannia zu Jena“.

Ralf Wohlleben (1.v.r.), André Kapke (3.v.r.), Ralph Oertel (4.v.r. (schw. Mantel) und Tino Brandt (links m. Brille) bei einem NPD-Infostand in Jena im Jahr 1999 (Foto: Jenaer Antifaschist*innen)

Im späteren NSU-Prozess benannte Wohllebens Verteidigung Ralph Oertel aufgrund seiner Eigenschaft als langjähriger Begleiter Wohllebens als Zeugen für dessen vermeintliche Friedfertigkeit. Zusammen mit Oertel wurde außerdem Rick Wedow im Prozess als Leumund für Wohlleben benannt, der mit Oertel die gesamte neonazistische Biographie teilt. Oertel und Wedow haben erst kürzlich das Lokal „Zum Goldenen Roß“ in Uhlstädt übernommen. Im vergangenen Jahr befand sich Ralph Oertel unter den TeilnehmerInnen des „Ausbruch“-Marsches in Budapest und setzte somit eine Tradition fort, die seine KameradInnen zur Entstehungszeit des NSU begründeten.

Ralph Oertel (mit schwarzer Kapuze) beim Start des „Ausbruch“-Marsches am 11.2.2023 in Budapest (Foto: Recherche Nord)

NS-Verherrlichung stoppen

Antifaschistische Proteste in Budapest im Februar 2023

In Budapest gibt es seit Jahren antifaschistische Gegenproteste zum „Tag der Ehre“, an denen sich wiederholt Gruppen aus verschiedenen Ländern beteiligt haben. Sie haben bewirkt, dass das Vernetzungstreffen militanter europäischer Neonazis in der Öffentlichkeit nicht mehr unwidersprochen verharmlost wird. Auch für dieses Jahr mobilisieren Antifaschist*innen aus Deutschland zu den Protesten nach Budapest. Im vergangenen Jahr soll es laut Medienberichten und Darstellungen von Neonazis außerdem zu körperlichen Angriffen auf TeilnehmerInnen des „Blood&Honour“-Konzerts und des NS-Gedenkens gekommen sein. Mit diesem Vorwurf hat die ungarische Polizei im Februar 2023 mehrere Antifaschist*innen aus Ungarn, Italien und Deutschland vorübergehend festgenommen, von denen zwei, Tobias und Ilaria, seither in Untersuchungshaft sitzen. In Italien wurde Ende 2023 der Antifaschist Gabriele auf Betreiben ungarischer Behörden verhaftet und wartet seitdem im Hausarrest auf eine Entscheidung über Ungarns Auslieferungsgesuch. In Deutschland sitzt aktuell Maja aus Jena mit demselben Schicksal in Dresdner Untersuchungshaft. Nach der Eröffnung des Prozesses gegen Tobias, Ilaria und eine weitere Beschuldigte kam es zu diplomatischen Verstimmungen zwischen Ungarn und Italien, weil Ilaria an Händen und Füßen gefesselt und an einer ca. 1,5m langen einer Kette von Beamt*innen in den Gerichtssaal geführt wurde. Gleichzeitig fahnden deutsche Behörden auf Antrag von Viktor Órbans Polizei nach zahlreichen weiteren Antifaschist*innen, von denen mehrere aus Jena stammen. Die Betroffenen sind seit fast einem Jahr untergetaucht, mutmaßlich, weil ihnen die genauen Vorwürfe der ungarischen Polizei unbekannt, aber die folterähnlichen Haftbedingungen und politisch hörige Justiz im autoritären Ungarn sehr gut bekannt sind. Die Eltern der teilweise noch sehr jungen Verfolgten haben sich gemeinsam mit einem Schreiben an die Öffentlichkeit gewandt, das sich gegen die von Ungarn geforderte Auslieferung ihrer Kinder richtet.
Wer sich mit antifaschistischem Bewusstsein heutzutage durch Jena bewegt, stößt an allen Ecken und Enden auf Kontinuitäten aus der Zeit des NSU : Im Stadtzentrum betreibt Mario Beythien, der 1998 mit den „Hatebrothers“ in Budapest aufmarschierte, das Tattoostudio „Muddox“. Die LKWs des NSU-Fluchthelfers Conny Coriand kommen zusammen mit dem bei Coriand angestellten NSU-Helfer Jürgen Helbig bei allen größeren Umzügen oder Bauprojekten zum Einsatz, während die Stadtverwaltung gleichzeitig keine Notwendigkeit sieht, im Fall des alles andere als reuigen Unternehmers Konsequenzen zu ziehen. Wenn man als Mieter*in Pech hat, geht wöchentlich Beate Zschäpes Cousin Stefan Apel im Hausflur ein und aus, der für den großen Hausmeisterdienst „Blencke“ arbeitet und seit der Mitgründung der „Kameradschaft Jena“ bis heute in Neonazikreisen aktiv ist. Dieselben Nazis, die schon in den Neunzigern mit Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt in der „Kameradschaft Jena“ aktiv waren und bis heute die Solidaritätskampagne für den NSU-Helfer Wohlleben unterstützen, übernehmen das bekannteste Ausflugslokal zwischen Saalfeld und Jena. Und seit Jahren verbünden sich diese Neonazistrukturen mit der AfD, die wie zur Demonstration dieser Kontinuitäten am 4.2.2024 eine Versammlung des Kreisverbands Saalfeld-Rudolstadt unter Anwesenheit des Höcke-Vertrauten Torben Braga,  stellvertretender Vorsitzender des Thüringer Landesverbands, im „Goldenen Ross“ abhielt. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich kaum jemand von der beispiellosen Jagd ungarischer und deutscher Behörden auf junge Antifaschist*innen abschrecken lässt, die von Thüringen bis Budapest dafür kämpfen, dass FaschistInnen in Nadelstreifen und militante Neonazis keine Rückzugsräume haben. Angesichts der Geschichte rechten Terrors speziell in Ostthüringen, aber auch in Deutschland und Europa und mit einem Blick auf die militanten Netzwerke zwischen Ostthüringen und Ungarn ist das nichts anderes als Selbstschutz und eine praktische Konsequenz aus dem NSU-Komplex.