Seit einem Jahr tritt in der Gegend um Kahla eine neue Neonazigruppe unter dem Namen „Aufbruch und Erneuerung“ in Erscheinung. Mit Hetzflyern gegen das queere Festival „Kahla Courage“ oder Aufrufen zur Denunziation von vermeintlichen Drogendealer:innen bedient die Gruppe genauso klassisch rechte Themen wie mit schwarz-weiß-rot dekorierten Gedenkkränzen zum Volkstrauertag. Gleichzeitig ist sie um ein kritisches Profil bemüht, indem sie sich in Blogbeiträgen von bestimmten rechten Strömungen distanziert und immer wieder linke Diskurse aufgreift, um sie von rechts zu besetzen. In der letzten Zeit suchte die Gruppe verstärkt Anschluss an die Corona-Proteste im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt und darüber hinaus. Eine inhaltliche und örtliche Nähe zur Neonazi-Burschenschaft Normannia drängt sich nahezu auf, zumal letztere ihre Aktivitäten nach außen im selben Zeitraum praktisch einstellte. Bislang war „Aufbruch und Erneuerung“ um Anonymität ihrer Mitglieder bemüht. Recherchen zeigen nun, dass es sich um einen Schulterschluss zwischen Normannia-Burschen, NPD-Politikern und Aktivisten der Identitären Bewegung und EinProzent handelt. Als Veranstaltungsort ihrer Vorträge und Treffen wich “Aufbruch und Erneuerung” statt auf die eigene Immobilie Burg 19 in Kahla wiederholt auf das Gasthaus „Zum Goldenen Ross“ in Uhlstädt aus. Dort soll am morgigen Samstag, dem 8.5.2021, um 18 Uhr eine Diskussionsveranstaltung zu Sahra Wagenknechts neuem Buch „Die Selbstgerechten“ stattfinden. Treffpunkt von „Aufbruch und Erneuerung“ ist um 17:30 Uhr am Uhlstädter Bahnhof.
Kahla: Wegzüge und Umstrukturierungen in der Naziszene
Die Naziszene in Kahla hat in den vergangenen Jahren stark abgebaut, was auch am Wegzug einiger ihrer Protagonisten liegt. David Buresch, der die früheren Aktivitäten des „Freien Netz (FN) Kahla“ maßgeblich mittrug und die Solidaritätsaktionen für Ralf Wohlleben mitorganisierte, hat Kahla in Richtung Erfurt verlassen. FN-Aktivist Patrick Nitsch hatte eine dreijährige Haftstrafe wegen des Brandanschlags auf den Demokratieladen abzusitzen und auch der zwischen Jena und Kahla pendelnde Jungnazi Antonio Szaszko sitzt seit Anfang 2020 in Haft. Auch Robert Köcher, ebenfalls ein Kopf des FN Kahla und 2015/2016 in die Organisation zahlreicher Thügida-Aufmärsche involviert, hat sich sichtlich zurückgezogen. Sebastian Dahl, der bis ca. 2019 ein führendes Mitglied der Neonazi-Mafia “Bruderschaft Turonen – Garde 20” war und den Dartladen unter seiner Wohnung für Nazitreffen nutzte, ist Richtung Pößneck verzogen. Zwar gab es zaghafte Versuche einer Gruppe um Jeremy Hase, mit einer Pößnecker Clique (erst „Neue Hitlerjugend“ (NHJ), dann „Patrioten Gruppe Thüringen (PGT)“, zuletzt „AHJ Thüringen“) auch in Kahla rechte Jugendliche zu organisieren. Aber nach ersten Graffitis und Pöbeleien am Rande von AfD-Veranstaltungen war davon auch nicht mehr viel zu sehen.
Selbstredend wohnen immer noch viele, vor allem ältere Nazikader in Kahla und auch der Jenaer Wohlleben-Vertraute und Normannia-Führungskader Ralph Oertel hat inzwischen seinen Namen an deren Briefkasten in der Burg 19 stehen. Auf die Normannia um Oertel und den langjährigen Bewohner der Burg 19, Hendrik Radtke, gehen auch die letzten organisierten Aktivitäten der Kahlaer Naziszene zurück: Seit Frühjahr 2020 übernahm die neu gegründete Gruppe namens „Aufbruch und Erneuerung“ (A&E) die vorher bei der Normannia liegende Praxis, Kahlaer Lokalpolitik auf Facebook von rechts zu kommentieren und linke Akteuer:innen zu diffamieren. Im Sommer wurde dann nicht nur im Netz, sondern auch mit einer Flyerverteilung in der Kahlaer Innenstadt gegen das Queer-Festival „Kahla Courage“ gehetzt. Die presserechtliche Anschrift auf dem Flyer sollte aus Kahla wegweisen, war jedoch nicht minder einschlägig: Die Stielerstr. 1 in Erfurt-Herrenberg, Sitz der früher als „Volksgemeinschaft“ auftretenden Nazis um Enrico Bicysko, die dort bis September 2020 noch ein Zentrum der NS-Partei „Der III. Weg“ betrieben.
Diese Erfurter Anschrift ließ trotz der maßgeblich in Kahla entfalteten Aktivitäten bereits erahnen, dass für das neue Projekt auch Erfurter Kameraden der Normannia mitverantwortlich zeichnen. Auch die inzwischen geänderte Adresse im Impressum von A&E verweist auf ein Erfurter Postfach. Nichtsdestotrotz liegt der Schwerpunkt der Gruppe personell in Kahla und auch die bisherigen Veranstaltungen fanden südlich von Kahla statt.
Alte Kader in neuem Gewand: 1998 in Wohllebens NPD – 2020 Aufbruch und Erneuerung
Die Gruppe bemühte sich trotz verschiedener Fotoveröffentlichungen bislang darum, die Gesichter ihrer Aktivisten zu verbergen. Mit einem Bild vom Gedenken an die Bombardierung Jenas, das A&E im März 2021 auf ihrem Blog veröffentlichten, bestätigte sich jedoch die Vermutung, dass es sich um ein Projekt der Burschenschaft Normannia handelt. Denn trotz der Anonymisierungsversuche sind darauf drei der Aktiven aus der Neonazi-Burschenschaft Normannia zu identifizieren: Philipp Duparré (Stadtroda), Rick Wedow und Ralph Oertel (beide aus Jena).
Philipp Duparré kommt ursprünglich aus Gotha, wo er in jüngeren Jahren noch Oi-Punk war und sich als links verstand. In jener Zeit war er auch Frontmann der Band „Apropo“, die einer rechten Haltung eher unverdächtig war. Seit rund vier bis fünf Jahren hat er jedoch Anschluss an die Burschenschaft Normannia gefunden und lebt mit seiner Familie in räumlicher Nähe in Stadtroda. Duparré beteiligte sich an der Seite von Ralph Oertel am Fackelmarsch der Deutschen Burschenschaft in Eisenach im Jahr 2017, war an der Wanderung der Normannia zum Burschenschaftsdenkmal 2019 beteiligt und trat für die Burschenschaft am 22.8.2020 in Maua zum Fechtduell an. Dort erschien er im klassischen Skinhead-Look in Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln und einem „Free Palestine“-Shirt. Letzteres könnte noch aus seinen Zeiten als Oi-Punk stammen, zu denen er sich bereits in der israelfeindlichen Manier vieler sich als links Verstehender einseitig „pro Palästina“ bekannte, ohne über die Hamas und andere autoritäre Antisemiten sprechen zu wollen. Mit seiner heutigen neofaschistischen Einstellung dürfte dies ohnehin kompatibel sein. Zu seiner Hochzeit in Jena schoss Duparrés Normannia-Kamerad Martin Schieck, Fotograf der AfD Thüringen, die Fotos. Trauzeuge war der Aumaer Neonazi Denni Bermich, der bei Der Dritte Weg aktiv ist und zu den Patrioten Ostthüringen zu zählen ist (Anm.: In einer früheren Version hieß es hier fälschlicherweise, dass der Trauzeuge der Kahlaer Nazi Marcus Weber gewesen wäre. Hierbei handelte es sich um eine Verwechslung).
Rick Wedow ist eine interessante Personalie von A&E, da er noch zu den Mitstreitern Ralf Wohllebens zu Zeiten des Thüringer Heimatschutzes in den 1990er Jahren gehört. Wedow baute mit Wohlleben den NPD-Stadtverband Jena auf und war bis zur Auflösung auch dessen letzter Vorsitzender, nachdem Wohlleben 2010 zurückgetreten war. Im selben Zeitraum war Wedow bereits in der Burschenschaft Normannia organisiert, mit dessen Gründungsmitglied Ralph Oertel er schon 1998 gemeinsam NPD-Kundgebungen abhielt. Rick Wedow war einer der beiden offiziellen Käufer der Burg 19 in Kahla. 2019 registrierte er unter seinem Namen auch eine Immobilienfirma beim Amtsgericht Jena. Auch Wedow zählt zu den regelmäßigen Teilnehmern von Normannia-Aktivitäten in den letzten Jahren, sei es am Burschendenkmal in Eisenach oder zu Treffen in Kahla oder Maua.
Zu Ralph Oertel muss an dieser Stelle nicht viel gesagt werden. Oertel war mit seinen mehr als zwanzigjährigen Aktivitäten, die eine ungebrochene Kontinuität vom früherem NSU-Umfeld bis in die heutigen Netzwerke von Identitären und Schnellroda darstellen, bereits Gegenstand mehrerer Veröffentlichungen:
- Heimatschutz 2.0 – Der Jenaer Nazi Ralph Oertel zwischen dem früheren NSU-Umfeld und der Identitären Bewegung
- NS-Ideologie und Fechtduelle: Überregionales Treffen extrem rechter Burschenschaften in Jena-Maua am 22.08.2020
Neue Mitstreiter von Identitären und EinProzent
Nachdem die Normannia-Burschen Ralph Oertel, Nico Schneider, Hendrik Radtke, Christian Heilmann (siehe Recherche und polizeiliche Fahnung) oder Martin Schieck schon seit Jahren mit der Identitären Bewegung (IB), EinProzent oder dem Antaios Verlag in Schnellroda verwoben waren, stellt die Gründung von A&E den konsequenten Schritt dar, ihre Thüringer Verbündeten aus diesen Netzwerken in einer Struktur zusammenzuführen. Wie dem Foto vom Volkstrauertag zu entnehmen ist, gehört dazu auch der Jenaer Identitären-Aktivist Marcel Waschek. Waschek beteiligt sich bereits seit 2016 an IB-Aufmärschen in Dresden, Berlin oder auch Wien. Er war außerdem an der IB-Aktion am TAZ-Gebäude in Berlin beteiligt, mit der die Rechten der linksliberalen Tageszeitung einen Zusammenhang mit dem erlogenen „Kantholz“-Angriff auf den Bremer AfD-Politiker Frank Magnitz andichten wollten. Im Rahmen der Aktion wurde eine TAZ-Mitarbeiterin vom IB-Kader Robert Timm und anderen tätlich angegriffen, als sie Flyer und Poster von der Fassade entfernte. Waschek schreibt seit Herbst 2020 für die rechte Zeitschrift „Blaue Narzisse“, in der früher schon das Normannia-Mitglied Marco Reese als Autor auftrat. Waschek gehörte im Sommer 2020 zu der kleinen Gruppe Rechter, die infolge der Hetze von A&E und dem Aufruf von Marcus Weber am Kahlaer Marktplatz erschienen.
Aus Erfurt zählt wenig überraschend „Walter Gornatowski“ (Web-Pseudonym nach einem SA-Kämpfer – Hinweise zu seiner Person sind immer willkommen) als Aktivist zu A&E. „Gornatowski“ ist ein enger Freund von Martin Schieck und bewegte sich zusammen mit diesem schon vor Jahren in den Netzwerken rund um die Burg 19 in Kahla und den Blood & Honour-Liedermacher Tobias „Bienenmann“ Winter. Am 1. Mai 2015 waren Schieck und „Gornatowski“ als Filmer und Fotografen beim Aufmarsch von „Der Dritte Weg“ in Saalfeld mit dabei, wobei sie mit offiziösen Ausweisen der NS-Partei klarmachten, dass sie vielmehr als Aktivisten denn als Journalisten hinter der Linse stehen. Ein Jahr später fanden beide über die Kampagne von EinProzent und IB gegen den Moscheebau in Erfurt-Marbach Anschluss an diese neueren faschistischen Bewegungen. Während Schieck als Filmer für EinProzent anfing, lief „Gornatowski“ zusammen mit den Identitären Konrad Kohlhas und Marcel Waschek bei mehreren AfD-Aufmärschen hinter dem Banner der rechten Hetzkampagne (siehe Bild in Recherche zu Christian Heilmann). Mit „Gornatowskis“ gutem Kontakt zu „Der Dritte Weg“ und anderen Erfurter Nazis dürfte auch die Adressangabe von deren Erfurter Zentrum auf den ersten Flyern 2020 zu erklären sein.
Neben „Gornatowski“ gibt es aus dem Raum Erfurt einen weiteren Aktivisten von A&E, der bereits einschlägig aufgefallen ist: Er lief im Februar 2020 neben anderen Thüringer Neonazis beim Budapester Aufmarsch mit, mit dem der Ausbruchsversuch von Wehrmachtstruppen aus der umzingelten Stadt im 2. Weltkrieg nachempfunden werden soll.
Ausblick
„Aufbruch und Erneuerung“ propagierten zuletzt mit Flyern und Aufklebern ihre Denunziationskampagne vermeintlicher Dealer:innen im Saale-Holzland-Kreis. Auch als im März 2021 die Behörden mit Durchsuchungen und Untersuchungshaft gegen die Mafiageschäfte der „Bruderschaft Turonen – Garde 20“ vorgingen, sprachen A&E den Mafia-Neonazis den Anspruch ab, sich „national“ nennen zu dürfen. Dass die Turonen in derartige Geschäfte verstrickt sind, zeigten jedoch nicht erst die jüngsten Polizeimaßnahmen. Im Grunde wurden seit Jahrzehnten bei den wiederholten Razzien in Gotha, Crawinkel oder Ballstädt neben Waffen und volksverhetzenden CDs auch Drogen sichergestellt. Trotzdem erschien A&E-Mitglied Hendrik Radtke am 08.06.2020 zusammen mit dem Garde 20-Mitglied Maximilian Warstat (Saalfeld-Gorndorf) beim Prozess gegen Felix Reck am Amtsgericht Rudolstadt. Und auch die sonstigen Bemühungen der Gruppe, sich inhaltlich von den altbekannten Neonazi-Netzwerken abzuheben, sind mehr als durchschaubar. Ihre führenden Jenaer Aktivisten sind Vertraute des NSU-Helfers Ralf Wohlleben, ihr Kahlaer Aktivist Radtke saß für die NPD im Kreistag Saale-Holzland-Kreis und ihre Erfurter Aktivisten kommen aus der militanten Naziszene und halten diese Kontakte bis heute. Der interessanteste Rückschluss aus der Gruppengründung könnten folgender sein: Die ausführlichen Recherchen und Veröffentlichungen zur Burschenschaft Normannia und ihren Mitgliedern haben der Burschenschaft den Raum genommen, über ihre internen Rituale hinaus als politischer Akteur in Erscheinung zu treten. Dafür spricht zudem, dass die Normannia infolge verstärkter Recherchen auf Jahre zurück alle Fotos, die auch nur verfremdet Personen abbildeten, von ihrer Facebookseite entfernt hat. Ob mit A&E auch der Versuch verknüpft ist, in neuem Gewand formell anschlussfähig für die Netzwerke um IB, EinProzent, AfD oder Antaios zu sein, bleibt abzuwarten.
Update: A&E gaben am Tag der Veranstaltung bekannt, dass sie ihre Räumlichkeiten verloren hätten und auf den “Großraum Sachsen” ausweichen mussten. Die Veranstaltung hätte dadurch nur noch in einem kleineren Kreis stattfinden können und soll wiederholt werden. Desweiteren sah sich die Gruppe zu einer langen Stellungnahme genötigt, in der sie u.a. die Beteiligung von Normannia-Mitgliedern bestätigt und den Versuch unternimmt, deren Einfluss kleinzureden.
Unseren obenstehenden Ausblick sehen wir daher bestätigt und können an dieser Stelle kurz resümieren: Antifa-Recherche wirkt!