Saalfeld spielte eine zentrale Rolle bei der Entstehung des „Thüringer Heimatschutz“ und des NSU-Terrors. Während einige Neonazis schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr aktiv sind, gibt es mit Christian Dietzel und Christoph Nicolaus zwei Saalfelder, die von der Gründung der „Anti- Antifa Ostthüringen“ 1992 über den „Thüringer Heimatschutz“ bis zur Wohlleben- Solidaritätskampagne 2012 und darüber hinaus dabeigeblieben sind.
Dieser Text ist zuerst im Antifa Infoblatt 132 (3/2021) erschienen.
„Rudolf-Heß-Marsch“ 1992
Die Neonaziszene im ostthüringischen Saalfeld-Rudolstadt erlangte 1992 bundesweite Aufmerksamkeit, als rund 2.000 Neonazis zu einem europaweiten „Rudolf-Heß-Gedenkmarsch“ durch Rudolstadt marschierten. In Saalfeld hatten der 20-jährige Andreas Rachhausen und der 16-jährige Christian Dietzel versucht einen Aufmarsch anzumelden. Während das Saalfelder Ordnungsamt die Anmeldung zurückwies, hatte Rachhausens parallel getätigte Anmeldung im benachbarten Rudolstadt Erfolg und die Neonazis mobilisierten bundesweit. Die noch junge regionale Neonaziszene erfuhr somit eine Aufwertung. Der Anmelder Rachhausen wurde während einer bald darauf folgenden Haftstrafe vom Thüringer Verfassungsschutz unter dem Decknamen „Alex” als V-Mann angeworben.
Zu dieser Zeit begannen die örtlichen Neonazis, als „Anti-Antifa Ostthüringen” öffentlich in Erscheinung zu treten. Auch Christian Dietzel und der damals 18-jährige Christoph Nicolaus zählten dazu. Seit 1995 ließ sich eine Militarisierung der Szene beobachten: Im selben Jahr platzierten Neonazis eine Bombenattrappe am antifaschistischen Mahnmal in Saalfeld. Es gab in Kahla und Milbitz Wehrsport und Schießübungen mit scharfen Waffen, an denen auch Nicolaus beteiligt war. Im Folgejahr kam es zu einem Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim und zu Sprengstoffattrappen in Jena.
Hauptquartier in Heilsberg
Seit ihrer Gründung veranstaltete die „Anti-Antifa Ostthüringen“ wöchentliche „Mittwochsstammtische” in wechselnden Kneipen zwischen Saalfeld und Rudolstadt. 1995 mietete Dietzel die entlegene Gaststätte „Saaleblick” auf dem Roten Berg in Saalfeld-Kamsdorf als ersten eigenen Raum an. Ab 1996 trat das Ostthüringer Netzwerk dann geschlossen als „Thüringer Heimatschutz” (THS) auf. Im Frühjahr 1997 richtete sich der THS im Gasthof von Heilsberg ein Hauptquartier ein. Die Hügel des oberhalb von Rudolstadt gelegenen Dorfes kannten die Neonazis bereits von ihren Wehrsportübungen im benachbarten Milbitz. Pächter des Gasthofs war erneut Dietzel. Heilsberg entwickelte sich schnell zu einem überregionalen Anlaufpunkt.
Für den 11. Oktober 1997 war eine antifaschistische Großdemonstration in Saalfeld geplant. Die Demonstration wurde verboten, nachdem von der Stadtgesellschaft massiv Stimmung gegen die Antifaschist_innen gemacht wurde und der THS zeitgleich eine Gegendemonstration angemeldet hatte. Am Morgen des 11. Oktober 1997 wurde die Gaststätte Heilsberg durchsucht, wobei das bis dahin größte Waffenlager Thüringens aufgefunden wurde. Darunter waren neben militärischer Schutz- und Funkausrüstung unzählige Hieb-, Stich- und Schusswaffen. In und um das Gebäude befanden sich knapp 70 Neonazis aus fünf Bundesländern. Nach dem Waffenfund wurde dem THS der Pachtvertrag zum Frühjahr 1998 gekündigt. Kurz nach dem Abtauchen des späteren NSU-Kerntrios Anfang 1998 wurde die Immobilie noch für ein Konzert genutzt, bei dem 700 DM für die Untergetauchten gesammelt wurden.
Fluchthilfe für das NSU-Kerntrio
Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe flohen am 26. Januar 1998 mit dem Auto des späteren NSU-Unterstützers Ralf Wohllebens vor der Polizei. Kurz vor ihrem Fluchtziel Chemnitz blieb Wohllebens Auto jedoch liegen. Aus Angst vor Observationen bat Wohlleben seinen Jenaer Freund Conny Coriand, das Auto zusammen mit Andreas Rachhausen zurückzuholen. Von der erfolgreichen Rückholung durch Rachhausen berichtete kurz darauf der Rudolstädter Neonazi-Kader und Top-Spitzel Tino Brandt seinem V-Mann- Führer. Als der Verfassungsschutz Rachhausen darauf ansprach, stritt dieser vehement ab. Als Zeugen dafür, zu keinem Zeitpunkt an eine westsächsische Autobahnraststätte gefahren zu sein, benannte er Christian Dietzel. Dem V-Mann- Führer genügte diese Antwort und Dietzel wurde nie befragt.
Zur selben Zeit hatte sich der THS an der „Militanzfrage“ entzweit. Die „Mittwochsstammtische“ wurden vor allem von Sven Rosemann, Andreas Rachhausen und Christian Dietzel angeführt, die laut Berichten aus der Szene eher eine Rückkehr zur „Straßengewalt“ angestrebt haben sollen. Die Neonazi-Kader Tino Brandt, André Kapke und Mario Brehme seien demgegenüber mehr an einer Außenwahrnehmung des THS als politische Kaderorganisation gelegen gewesen. Sie hätten sich aufgrund der vielen Waffen- und Sprengstofffunde zudem vor einem Verbot des THS gesorgt.
Zerfall des THS
Als es im Vorfeld des Todestags von Rudolf Heß im Sommer 2000 zu polizeilichen Präventivmaßnahmen gegen mehrere THS- Kader kam, sah man sich in der Sorge bestätigt. In einer skurrilen, aber durchschaubaren Presseerklärung distanzierte sich der THS von allen seinen Führungskadern. Anstelle eines von Verboten bedrohten Heß-Marsches wurde eine „Interessengemeinschaft gegen Polizei- und Staatswillkür” (IGPS) erfunden, deren Postfach Christoph Nicolaus einrichtete. Mit seiner weniger vorbelasteten Personalie sollten Versammlungsverbote erschwert werden.
Nach der Jahrtausendwende wurde mit Tino Brandt die Thüringer Führungsfigur als V-Mann enttarnt. Wohlleben löste seinerzeit Brandt als Thüringer Führungsfigur ab und stand maßgeblich hinter den unzähligen NPD-Aufmärschen und dem Aufkommen der Rechtsrockfestivals im Thüringen der 2000er Jahre. Nach den Differenzen Ende der Neunziger marschierten zum 1. Mai 2007 auch die Saalfelder Christian Dietzel und Christoph Nicolaus hinter Wohlleben durch Erfurt. Ein Jahr später trafen sich Nicolaus und Wohlleben beim „Rock für Deutschland” in Gera wieder.
Selbstenttarnung des NSU und Wohlleben-Solidarität
Als sich am 4. November 2011 der NSU selbst enttarnte, geriet die alte Garde des THS in Aufregung. Ralf Wohlleben („Wolle”), der dem NSU die Tatwaffe der Mordserie besorgt hatte, tauschte sich ununterbrochen mit früheren und aktuellen WegbegleiterInnen über die neuesten Presseberichte und Ermittlungen aus. Noch am Tag der Selbstenttarnung des NSU telefonierte Wohlleben mit Dietzel. Ein paar Tage später lud ihn Wohlleben zu einem Konzert nach Saalfeld-Unterwellenborn ein, bei dem Mirko Fritze (geb. Szydlowski) als Liedermacher „Barny“ auftrat. Nachdem Wohlleben Ende November 2011 in Untersuchungshaft kam, erhielt Dietzel eine Dauerbesuchserlaubnis.
Der „Thüringentag der nationalen Jugend” 2013 in Kahla stand ein Jahrzehnt nach seiner Erfindung durch Wohlleben unter besonderen Vorzeichen: Während Wohlleben in Haft saß, nutzte die Ostthüringer Neonaziszene das jährliche Event, um ein Solidaritätsfestival für „Wolle” zu veranstalten. Als einer der Hauptorganisatoren trat der frühere NPD-Kandidat Steffen Richter auf, der als Jugendlicher um 2000 zum THS dazugestoßen war. Zum Festival hing auch das alte Banner des THS an einem Kleinbus – befestigt durch Dietzel. Auch Nicolaus erschien mit seiner Partnerin Isabell Kunstmann in „Freiheit für Wolle”-Shirts. Zusammen mit Dietzel kümmerten sie sich um den Einlass zum Festival.
Dietzel und Nicolaus blieben auch über die Wohlleben-Unterstützung hinaus aktiv. Als die Neonazi-Partei „Der III. Weg“ am 1. Mai 2015 nach Saalfeld mobilisierte, lief Nicolaus am Schluss des Aufmarschs neben Steffen Richter, während Dietzel im Shirt von „Der III. Weg“ im uniformierten Block mitmarschierte.
Saalfeld: Manches ändert sich nie
Der Saalfelder Staatsschutz warnte das Ordnungsamt schon vor dem Rudolf-Heß-Marsch 1992 vor der Gefährlichkeit des damals 16-jährigen Dietzel. Mit dieser Prognose bewiesen die ansonsten wenig lobenswerten Beamt_innen ein gutes Gespür. Mit dem Wissen um „Wehrsport“ und Waffenbeschaffung der Szene wurde Mitte der 1990er Jahre gegen den THS wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Zu den Beschuldigten zählte auch Nicolaus. Diese Ermittlungen wurden jedoch 1997 ebenso eingestellt wie die Ermittlungen gegen Dietzel, in dessen Gasthof im Oktober 1997 das massive Waffenarsenal ausgehoben wurde. Auch die Fluchthilfe für das spätere NSU-Trio und dessen Leugnen durch Andreas Rachhausen, der Dietzel dafür als Zeugen nannte, wurde nicht als Strafvereitelung verfolgt, da der Verfassungsschutz untätig blieb.
Als nach 2011 viele ehemalige THS-Aktivisten in Untersuchungsausschüssen, bei der Polizei, der Bundesanwaltschaft und im Münchener NSU-Prozess aussagen mussten, blieben Dietzel und Nicolaus unbehelligt. Und auch in den vielen Medienberichten blieb ihre Rolle in den 1990ern oder Dietzels Unterstützung für den inhaftierten Wohlleben ungenannt. Beide blieben über all die Jahre aktiv und schlossen sich auch neuen Neonazi-Kreisen wie dem „Der III. Weg“ an. Mit seiner Firma für Trockeneisreinigung kann Dietzel auch auf öffentliche Aufträge bei der Graffitientfernung im Landkreis bauen.
Im Frühjahr 2019 tauchte in sozialen Netzwerken ein Foto auf, das mutmaßlich Wohlleben zeigen dürfte. Demnach hätte er das erste Mal nach acht Jahren Haft seinen Geburtstag in Freiheit gefeiert. Die Musik dazu lieferte der Liedermacher „Barny“, der seit einigen Jahren nahe Saalfeld am Hohenwarte-Stausee lebt. Als zweiter Musiker war 2019 zudem mit Maximilian Lemke ein anderer Saalfelder THS-Aktivist der ersten Stunde mit dabei.
In Saalfeld kommen somit auch wieder manche von denen zusammen, die vor 30 Jahren mit der „Anti-Antifa Ostthüringen“ den rechten Terror der 1990er Jahre mit einläuteten und den späteren Kreis um den NSU mit aufbauten. Passend dazu weht am „Saaleblick” auf dem Roten Berg bei Saalfeld, 1995 die erste THS-Immobilie, wieder eine Reichsflagge und zur Sonnenwendfeier 2020 kamen dutzende Neonazis zusammen.
Weitere Hintergründe zu den THS-Immobilien und Personen des NSU-Komplexes aus dem Raum Saalfeld/Rudolstadt in dieser Übersicht .