Am 4. November jährt sich die Selbstenttarnung des NSU zum 10. Mal. Im Jahr 2011 reagierte die Stadt auf das Auffliegen des von Jena ausgehenden Terrornetzwerks mit vorauseilender Schuldabwehr und der Sorge um den guten Ruf als liberales Wirtschaftswunder in Ostdeutschland. Als ob die Beschwörung des Mantras der “bunten und weltoffenen Stadt” die Schuld und die lokale Verantwortung aufwiegen könnten. Der gesellschaftliche Rassismus und die Fragen der Betroffenen sollten keine Rolle spielen. Seither ist bundesweit viel passiert: Die Überlebenden der Anschläge und Hinterbliebenen der Todesopfer haben ausdauernd darum gekämpft, gehört zu werden und Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Anders als in den Jahren vor 2011 wurde ihre Forderung nach Aufklärung von Teilen der Gesellschaft ernstgenommen und unterstützt, während der Staat in Gestalt verschiedener Landesregierungen und Bundesministerien an entscheidenden Stellen weiterhin mauerte. Obwohl sich der NSU selber als ein “Netzwerk von Kameraden” bezeichnete, wurden im NSU-Prozess lediglich fünf Personen schuldig gesprochen, von denen vier aus Jena stammten. Wie durch die Arbeit engagierter Journalist*innen, Antifaschist*innen, Parlamentarier*innen und Nebenklagevertreter*innen aufgeklärt werden konnte, bestand das Netzwerk des rechten Terrors jedoch aus zahlreichen namentlich bekannten Personen. Alleine aus Jena und Ostthüringen lassen sich Dutzende Personen benennen, die dem Terror den Weg bereiteten und dem NSU-Kerntrio beim Untertauchen und Leben im Untergrund halfen.
Wenngleich die Stadt Jena nach öffentlichem Druck mit der Benennung des Enver-Şimşek-Platzes den Forderungen Hinterbliebener nachkam und aktuell in einer Veranstaltungsreihe wichtige Fragen der gesellschaftlichen Entstehungsumstände des NSU diskutiert, verbleiben die Konsequenzen aus der Terrorserie auf einer diskursiven Metaebene. Von wem die konkrete Gewalt ausging, lässt sich jedoch benennen: Es waren Mitglieder der Jenaer Kameradschaft, der Burschenschaft Normannia, von Rechtsrockbands und rechten Skinhead-Cliquen. Konsequenzen aus dem rassistischen und rechten Terror von Thüringer Heimatschutz und NSU zu ziehen, muss daher auch die Auseinandersetzung mit diesen Personen und ihren Biographien beinhalten. Die Betroffenen der Baseballschlägerjahre in den 90ern und 2000ern müssen genauso wie die Überlebenden und Hinterbliebenen der NSU-Terrorserie für immer mit den Folgen und tiefen Verletzungen leben. Derweil führen viele der TäterInnen[*] und NSU-HelferInnen ein bequemes Leben inmitten der Jenaer Stadtgesellschaft.
Wir haben da einige unbequeme Fragen: Wer sind diese Neonazis und ex-Neonazis, die heute noch in Jena und Umland leben? Welchen Anteil hatten sie an der Entfesselung des rechten Terrors und dem Gelingen der NSU-Mordserie? Wer von ihnen ist heute noch aktiv? Und welche Verantwortung könnten diese Personen heute noch für die Aufarbeitung des rechten Terrors übernehmen? In einer hiermit eingeleiteten Artikelserie wollen wir einige Antworten auf diese Fragen liefern und den Entstehungsumständen des rechten Terrors Gesichter geben.
Nach 2011: Als alle plötzlich ausgestiegen waren
Die Aussagen ehemaliger und noch aktiver Neonazis im NSU-Prozess waren von vielen Gemeinsamkeiten geprägt: Alle leiden unter massiven Erinnerungsschwierigkeiten, niemand will nach dem Untertauchen des Trios etwas von Unterstützung mitbekommen haben und alle wollen nach 2000 aus der Naziszene ausgestiegen sein. Wenn nachgefragt wurde, mit welchen Schritten der Ausstieg vollzogen wurde, hieß es zumeist: Ich bin nicht mehr hingegangen. Die bürgerliche Gesellschaft beweist in vielen Fällen erstaunliche Toleranz mit militanten FaschistInnen, die je nach Opportunität ihren Ausstieg beteuern. Dahinter steht zum einen ein Missverständnis von Liberalität und den Bedingungen, unter denen Neonazis sich nachhaltig verändern. Denn Veränderung setzt Auseinandersetzung mit der eigenen und gesellschaftlichen Vergangenheit voraus, was eine beiderseitige Verantwortung voraussetzen würde. Um sich dieser nicht zu stellen, wird die schlichte Akzeptanz der Neonazis mit dem pro forma erklärten “Ausstieg” zum Zeichen der eigenen Toleranz verklärt. Zum anderen steht hinter diesem nicht-Umgang mit “ausgestiegenen” Neonazis die fehlende Betroffenheit der weißen gesellschaftlichen Mitte. Wer noch nie vor Neonazis wegrennen musste und nicht mit den Traumata und Verletzungen rechter Übergriffe leben muss, sieht sich durch den Neonazi im Kollegium oder der Fußballmannschaft auch nicht bedroht. Die Frage nach richtigen und falschen Ausstiegen spielt eine gewichtige Rolle im heutigen Umgang mit den Wegbereiter*innen des rechten Terrors.
Was bedeutet ‘Ausstieg aus der extremen Rechten’?
Diese Veröffentlichungsreihe zum NSU-Umfeld damals und heute ist aus unserer Sicht insbesondere deshalb notwendig, weil kaum eine jener Personen aus dem unmittelbaren Unterstützer*innenkreis des NSU-Kerntrios und aus den Jenaer Strukturen, die zum Entstehen des rechten Terornetzwerks maßgeblich beigetragen haben, wirklich für ihr Handeln Verantwortung übernommen hat. Viele der in den kommenden Veröffentlichungen benannten Personen mögen sich aus der aktiven Naziszene zurückgezogen haben. Trotzdem trugen sie an keiner Stelle zur Aufklärung der Taten des NSU und ihrer Hintergründe bei. Sie bekundeten kein Mitgefühl mit den Betroffenen der Nazigewalt in den 90ern und 2000ern oder den Opfern der Anschläge des NSU und ihren Angehörigen. Und anstatt ihre eigene Rolle öffentlich nachvollziehbar zu hinterfragen und zu kritisieren, sahen sich die meisten Jenaer Zeug*innen selber als Opfer – Opfer der Öffentlichkeit, der sie als Zeug*innen im NSU-Prozess oder in den Untersuchungsausschüssen ausgesetzt waren. Bei einem solchen Verhalten kann mitnichten von einem Ausstieg gesprochen werden.
Antifaschist*innen haben sich schon vielfach ausführlich zu den Voraussetzungen eines glaubwürdigen Ausstiegs aus der Naziszene geäußert. Eine immer noch aktuelle Orientierung bietet zum Beispiel der Artikel “Aussteiger, Rückzieher, Aufhörer, Austreter” aus dem Antifaschistischen Infoblatt (siehe AIB 74/2007). Die Grundsätze eines Ausstiegs wären kurz zuammengefasst:
1) Eine nachvollziehbare Auseinandersetzung und Distanzierung von der faschistischen Ideologie.
2) Eine offene Positionierung gegen die extreme Rechte.
3) Ein Verbauen des Rückwegs in die rechte Szene durch einen Verrat der rechten Strukturen und KameradInnen an Journalist*innen, Antifa-Strukturen und potentiell Betroffene der rechten Gewalt.
Gelegentlich wird angemerkt, es wäre aus menschlicher Sicht zu viel verlangt, alte KameradInnen zu verraten – das kann angesichts der Dimension der Verbrechen des NSU und auch seiner Vorgänger- und Ursprungsstrukturen wie dem “Thüringer Heimatschutz” kein Argument sein. Natürlich muss von Aussteiger*innen nicht verlangt werden, sich zum Beweis ihrer Ernsthaftigkeit in unmittelbare Gefahr zu begeben. Da ein nachhaltiger Ausstiegsprozess aber ohnehin mehrere Jahre dauert, geht das Offenlegen der früheren Nazistrukturen bei vielen Aussteiger*innen in der Regel einher mit einem Umzug und umsichtigen Absprachen mit den Empfänger*innen dieser internen Informationen. Bei diesen Überlegungen zum Schutz der Aussteiger*innen vor den Geistern, die sie selber riefen, muss jedoch klar sein: Während sich der Großteil der ehemaligen WeggefährtInnen des NSU im bürgerlichen Leben eingerichtet haben, leiden die Betroffenen des Naziterrors bis heute an den Folgen. Für sie kann es keine Verjährung des Terrors geben, ihre Traumata wirken lebenslang nach und sie wird die Trauer ewig begleiten.
Viele Mitglieder der Jenaer Naziszene der Neunziger Jahre wähnen sich zudem fernab der Verantwortung für die Morde des NSU, die sich außerhalb Thüringens zugetragen haben. Auch im öffentlichen Diskurs über die Verantwortung Jenas findet sich diese Darstellung häufiger wieder. Dabei wird ignoriert, dass die Gewalt, die ab 1998 aus dem Untergrund heraus in eine Mordserie umschlug, zuvor über Jahre auf den Jenaer Straßen stattfand. Wie ein Jenaer Antifaschist im NSU-Untersuchungsausschuss betonte, gab es bereits Mitte der Neunziger brutale rassistische Übergriffe, Angriffe auf antifaschistische Jugendliche sowie Rohrbombenanschläge auf Geflüchtetenheime (siehe Bericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss S. 162). Die irreführende Erzählung der “Zwickauer Zelle” verschleiert die Bedeutung, die Jenaer und Ostthüringer Netzwerke für den NSU hatten. Nicht nur die Flucht und erste Finanzierung im Untergrund wurden von Jena aus organisiert. Auch die Mordwaffe Ceska 83 wurde von Jenaer Neonazis über lokale Mafia-Kontakte beschafft und in einem Naziladen in der Wagnergasse übergeben. Hinzu kommen Bemühungen Jenaer Nazis, durch überregionale Kontakte weitere Gelder, neue Fluchtorte und Identitätslegenden für die Untergetauchten zu organisieren.
Was heißt ‘Konsequenzen ziehen’ für die Stadt Jena?
Die Forderung der Betroffenen und Hinterbliebenen nach Aufklärung und Konsequenzen betrifft die gesamte Gesellschaft. Die Auseinandersetzung mit Rassismus, mit den Erfahrungen Betroffener und ihren oft unsichtbar gemachten Kämpfen dagegen ist daher für alle Menschen unerlässlich. Gleichwohl lassen sich auch Forderungen an Funktionsträger*innen der Stadt Jena und ihrer Institutionen richten. Eine derartige Auseinandersetzung wurde schon bald nach der Selbstenttarnung 2011 rund um den Winzerclub und das Konzept der sogenannten akzeptierenden Jugendarbeit geführt. Und auch wenn bereits vor 2011 die Jugendarbeit in Jena anders aussah als in den Neunzigern, muss die Forderung weiterhin sein, dass sich eine städtisch geförderte Raumergreifung von Neonazis nicht mehr wiederholen kann.
Eine weitere Konsequenz für die Kultur- und Bildungseinrichtungen von Stadt und Land müsste sein, die Forderung nach einer Abschaffung des Verfassungsschutzes mitzutragen und den Geheimdienst nicht als Gast zu Veranstaltungen einzuladen. Der Thüringer Verfassungsschutz hat Unmengen an Geld über V-Leute in die Szene fließen lassen und es an zahlreichen Stellen versäumt, sein Wissen um Fluchtort und UnterstützerInnen des NSU-Kerntrios an die Fahnder*innen der Polizei weiterzugeben. Statt einer schonungslosen und transparenten Aufarbeitung dieser Mitverantwortung für die Mordserie sabotierte der Dienst die Aufklärung, wo er nur konnte. Seinen Mitarbeiter*innen wurden Aussagegenehmigungen verweigert und Aktenbestände wurden entweder präventiv geschreddert oder solange es ging für verschollen erklärt. Dass auch der Leiter des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), Matthias Quent, im Februar 2020 in einem gemeinsamen Artikel mit dem Chef des Thüringer Verfassungsschutzes eine stärkere Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst forderte, war ein fatales Signal und ein Rückschritt in der öffentlichen Aufarbeitung des NSU-Terrors.
Es gibt zudem einzelne Jenaer Fluchthelfer*innen und Unterstützer*innen des NSU-Kerntrios, die heutzutage erfolgreiche Unternehmen in der Stadt leiten und maßgeblich von öffentlichen Aufträgen leben. Andere ehemalige Mitglieder der Kameradschaftsszene der Neunziger sind als Soloselbständige für die Stadt tätig oder arbeiten für größere Dienstleistungsfirmen, die im Auftrag der Stadt tätig sind. Auch hier ließen sich Zeichen setzen, indem diejenigen, die trotz Mitwissen und Unterstützung nie Verantwortung für die Aufarbeitung übernommen haben, keine Gelder aus öffentlichen Kassen erhalten. Ebenso wäre es ein Signal, dass Dienstleister*innen und deren Angestellte, die sich 1998 noch für rassistische BombenbauerInnen engagiert haben und daher für die Bewohner*innen der Stadt Jena eine Bedrohung darstellen, nicht in öffentlichen Einrichtungen und kommunalen Wohnungsunternehmen eingesetzt werden.
Vor diesem Hintergrund halten wir es für mehr als angemessen, endlich Informationen über die alten KameradInnen der Kameradschaft Jena und des Thüringer Heimatschutzes offenzulegen und die Forderung zu erneuern, Verantwortung für die eigene Mitschuld an der Entstehung und an den Gewalttaten des NSU zu übernehmen. Die Aufklärung ist noch lange nicht vollendet und alleine in Jena gäbe es viel Wissen offenzulegen.
Solange das nicht passiert, sehen wir es als notwendig an, an diesem Status quo zu rütteln und den UnterstützerInnen und TäterInnen von damals auch in der Gegenwart keine Ruhe zu lassen.
[*] Rechte Ideologie schließt eine binäre Geschlechterideologie mit ein, d.h. die Vorstellung, dass es nur „Mann“ und „Frau“ gibt. Bei Rechten wird hier daher im Plural nur mit der Binnen-I-Schreibweise gearbeitet. Bei allen anderen Menschen und ehemaligen Rechten wird hingegen im Plural die Schreibweise „…*innen“ verwendet, um sichtbar zu machen, dass es jenseits von Mann und Frau viele Geschlechtsidentitäten gibt.